Winternotprogramm – 1992 – 2002 – 2012
Unser Pionier des Winternotprogramms, der dafür auch mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde, Günter Zabel, schrieb in Gemeindeleben 3.2002 zum 10-jährigen Jubiläum:
10 Jahre Winternotprogramm Wohncontainer für Obdachlose
Im Herbst 1992 erging eine Anfrage und Bitte der Behörde für Ar-beit, Gesundheit und Soziales an alle Kirchengemeinden, sich an der Betreuung von Obdachlosen im Winter zu beteiligen. Die Gemeinden sollten auf ihren Grundstücken Platz zur Verfügung stellen, um dort Wohncontainer als Erfrierungsschutz aufzustellen. Die Container sollten Stromanschluß für Beleuchtung und E-Heizung bekommen. Ebenso sollte ein Sanitärcontainer mit WC, Waschbecken und Duschen aufgestellt werden. Die Gemeinden wurden gebeten, Mitarbeiter zur „niedrigschwelligen Betreuung“ der Bewohner zu finden. Sämtliche Kosten übernahm das Landessozialamt.
Auf unserem Parkplatz zwischen Kirche und Bahndamm war Platz vorhanden, und auch Anschlüsse für Strom, Wasser und Abwasser ließen sich ohne großen Aufwand installieren. In der Gemeinde wurde die Anfrage diskutiert, das Für und Wider abgewogen. Könnten sich vielleicht Probleme mit Kindergarten und Obdachlosen ergeben? Die wenigsten von uns hatten bis dahin nennenswerte Kontakte zu Obdachlosen, ohne festen Wohnsitz lebenden Menschen, die eine Randgruppe unserer Gesellschaft darstellen – auch ich nicht.
In der Gemeindestunde am 15. November 1992 sprach sich die überwiegende Mehrheit der Gemeindeglieder für eine Beteiligung am „Winternotprogramm“ aus. Unsere Gemeinde war die erste, die sich dazu bereit fand, und Jürgen Mehlfeldt klärte die Einzelheiten mit der Behörde ab. Wir warben um Mitarbeiter, und es meldeten sich genügend. Dabei waren auch einige von der Johanniskirche, die sich aus räumlichen Gründen nicht beteiligen konnte. Einer von ihnen ist nun schon jahrelang dabei.
Am 1. und 2. Dezember 1992 wurden drei Schlafcontainer mit je drei Betten und ein Sanitärcontainer aufgestellt, dann folgte ein weiterer für den Aufenthalt der Mitarbeiter und als Frühstücksraum für unsere Bewohner. Die Strom-, Wasser- und Abwasserinstallationen wurden von Fachfirmen ausgeführt. Inzwischen wurde ein Dienstplan für die Mitarbeiter erstellt und eine Benutzungsordnung in jedem Container ausgehängt.
Die Obdachlosen werden uns zugewiesen von der Tagesaufenthaltsstätte des Diakonischen Werkes in der Bundesstraße, von der Bahnhofsmission und der Heilsarmee. Die Übernachtung ist kostenfrei. Es werden keine Daten erhoben, jeder bleibt anonym. Lediglich der Vorname oder ein anderes Merkmal soll festgehalten werden, um die Belegung in einer Statistik zu erfassen. Von der Behörde war vorgesehen, dass die Übernachtenden jeden Abend zwischen 18 und 21 Uhr Zugang zu den Containern haben sollten, die am nächsten Morgen bis 9 Uhr wie-der zu verlassen waren. Also musste ein Betreuer von 18 bis 21 Uhr Dienst tun und die Container aufschließen. Ebenso musste von 7 bis 9 Uhr einer anwesend sein, um die Container tagsüber abzuschließen. Wir hatten uns entschlossen, jeden Morgen ein Frühstück anzubieten, das wir aus Spenden finanzieren wollten. Das funktioniert bis heute. Der Frühdienst kocht dann Kaffee oder Tee und stellt Brot und was dazu gehört bereit. Die ersten Übernachtungen waren vom 11. zum 12. Dezember 1992.
Günter Zabel wurde für seinen Dienst das Bundesverdienstkreuz verliehen.
Seine Nachfolge teilten sich Heinz Naber und Rüdiger Berg. Rüdiger Berg schrieb in Gemeindeleben 4.2012:
20 Jahre Winternotprogramm
Am Mittwoch, dem 24 Oktober, war es wieder soweit: Die Container für das Winternotprogramm (WNP) wurden angeliefert. Immer wieder aufs Neue ist das ein spannender Moment, da man nie weiß, ob die LKWs mit ihren Anhängern freie Zufahrt über den Holstenplatz zu unserem Gelände haben.
Heinz Naber lässt zwar jedesmal in Absprache mit der Verkehrspolizei Halteverbotsschilder aufstellen, aber manche Autofahrer scheinen die Schilder nicht zu interessieren… Spannend ist für uns als Mitarbeiter auch immer wieder aufs Neue, wer wohl so alles am 1. November bei uns einzieht. Wir haben einen Aufenthalts-, einen Sanitär- und sechs Wohncontainer belegt mit jeweils zwei Männern. Zur Zeit wohnen bei uns drei Polen, zwei Tschechen, ein Italiener, ein Bayer, und der Rest sind Deutsche.
Davon waren fünf Männer letzten Winter bzw. das Jahr davor schon mal bei uns. Dieses Jahr haben wir Jubiläum, denn das WNP jährt sich zum zwanzigsten Mal… Ende 2003 kündigte Günther Zabel im Alter von 79 Jahren seinen Ausstieg aus dem WNP an. In dieser Situation fragte der Ältestenkreis bei Heinz Naber und Rüdiger Berg an, ob sie sich vorstellen könnten, gemeinsam die Aufgaben von Günther Zabel zu übernehmen. Sie konnten es sich vorstellen, und so erfolgte der offizielle Ausstieg von Günther Zabel bzw. die Übergabe seiner Aufgaben an die neuen Verantwortlichen zum 1. Januar 2004.
Heinz Naber übernahm sämtliche Kontakte zur Sozialbehörde und dem Diakonischem Werk und pflegt diese seither mit viel Einsatz und Freude. An der Stelle möchte ich auch noch kurz aus meiner persönlichen Erfahrung erzählen: Trotz meiner eigenen Drogen- und kriminellen Vergangenheit hatte ich über Obdachlose das allgemeine Klischeedenken. Das waren halt die Penner und Säufer von der Straße, mit denen ich nichts zu tun haben wollte.
Nachdem ich Christ wurde und die Gnade Gottes in meinem eigenen Leben erfahren durfte, hat sich meine Sichtweise in Bezug auf andere Menschen komplett verän-dert. Trotzdem blieb noch so ein gewisses Schubladendenken zurück. Aber noch zu Günther Zabels Zeiten und umso mehr, seitdem ich aktiv im WNP arbeite, hat Gott mir nochmal einen ganz anderen Blick für diese Menschen geschenkt. Plötzlich wurde es persönlich. In Gesprächen hörte ich die unterschiedlichsten Gründe, warum ein Mensch auf der Straße landen kann.
Es sind eben nicht immer unbedingt der Alkohol oder die Drogen. Auch die oft gebrauchte Formel „selbst dran schuld“ greift zu kurz. Selbst verschuldet oder nicht, das sei dahin gestellt. Fakt ist, dass meistens eine innere Not dahinter steckt. Diese Not möchte ich erkennen und ihr begegnen so gut es mir möglich ist. Für mich gibt es heute den „Penner“ nicht mehr, zumindest nicht auf der Straße. Ein Obdachloser ist nicht weniger wert als ich, und ich bin nicht besser als er.
Wir hatten vor einiger Zeit einmal einen Zivi, der auch im WNP mitge-arbeitet hat. Am Ende seiner Dienstzeit stellte ich ihm die Frage: „Was hast du hier gelernt, gibt es etwas, was du für dich mitnehmen kannst?“ Er antwortete wortwörtlich: „Ja, ich habe etwas gelernt, ich werde einen Obdachlosen nie mehr Penner nennen.“ Diese Aussage löste eine große Freude in mir aus, hat sie mich doch an meine eigene Erfahrung erinnert und diese bestätigt.
Es ist aber auch ein Bestreben von uns als Mitarbei-terteam, den Menschen zu sehen und unseren Bewohnern ohne Vorurteile auf Augenhöhe zu begegnen. Zum Team gehören: Heinz Naber, Rudolf, Willy senior, Rüdiger S., Martin Chi, Rüdiger Z., Carsten T., Götz, Jonas und Rüdiger B.
Noch einmal zurück zu unserem Jubiläum: Ich denke, dass es nicht immer unbedingt einfach war, da mitunter auch schwierige Menschen bei uns waren. Es gab Situationen, die leicht hätten kippen können. Von daher dürfen wir im Rückblick auf 20 Jahre dankbar sein, dass nie wirklich etwas Schlimmes passiert ist und auch die Mitarbeiter und Bewohner weitgehend bewahrt blieben.