13. Februar 2025 | 

Die Kunst der Fuge – Völlig losgelöst – Architektin Dorothea Pieper

Christuskirche 2021

Nehmen Sie Platz in der Christuskirche, egal an welcher Stelle. Nehmen Sie sich Zeit, lassen Sie Ihren Blick schweifen. Genießen Sie die Leichtigkeit. Die Kunst der (Architektur) Fuge. Die raumbildenden Bauteile berühren einander nicht. Sie stehen für sich allein.

Die Wand berührt nicht die Wand, die Decke hängt frei im Raum. Der Verkündigungsbereich schwebt über dem Zuschauerparkett. Die Bauteile sind voneinander gelöst, dass schenkt Leichtigkeit. Suchen Sie die Fugen, lassen Sie sich überraschen von der Eleganz der Linienführung.

Das Oval ist die bestimmende Gestaltungsform. Empore, Decke, Verkündungsbereich. Das Oval verbindet die unterschiedlichen Zonen und zentriert sie gleichermaßen. Das Oval schafft Ruhe, Ausgeglichenheit, entschleunigt. Die Elemente des Innenraumes sind wohl überlegt und grandios akzentuiert. Weiß ist die beherrschende Farbe des Raumes. Als Kontrast dazu für im Zentrum schwarze Bizzazafliesen kombiniert mit edlem Mahagoni.

Der Innenraum der Christuskirche atmet für mich Freiheit, die Freiheit des Evangeliums. Ich sehe meinen Nächsten, denn ich sitze im Halboval. Und doch konzentriert sich mein Blick auf das gottesdienstliche Geschehen. Bewundern schaue ich die Vielfalt der Menschen. Ihre Individualität und Verschiedenartigkeit werden in der weißgekälkten gekrümmten Wandscheibe symbolisiert.

Ziegelsteine des zerbombten Gebäudes, von Mörtel freigeschlagen, wieder aufgemauert, weiß gekälkt bilden Sie den Raum um das zentrale Geschehen. Ihnen gegenüber die Gemeinde, als lebende Zeugen der immerwährenden Zusage Gottes an uns Menschen. Staunend sehe ich Zentrum Taufe und Auferstehung und weiß um die Gnade, die jedem von uns zu Teil werden kann.

Wer tiefer einsteigen möchte in die Architekturgeschichte ist herzlich eingeladen weiter zu lesen.

Architektonisches Konzept und visionäre Ansätze – Christuskirche 1.0
Mit großzügiger Unterstützung des Kommerzienrats Renner reisten J.W Lehmann (Architekt und Enkel des Mitbegründers des deutschen Baptismus) und Gemeindeprediger Kickstatt im Anschluss an die baptistische Weltkonferenz 1911 durch die Vereinigten Staaten von Amerika, um sich Anregungen und Ideen von den dortigen Baptisten Kirchen zu holen.

1913-1915 entstand in Altona der fortschrittlichste Kirchenbau des europäischen Baptismus und die modernste Kirche im Groß Hamburger Raum. Neben einem weiträumigen Gemeindehaus mit vorbildlicher Predigerwohnung schloss sich eine Turnhalle mit einer Vorrichtung für Filmvorführungen an. Der Kirchenraum, auf einem kreuzförmigen Grundriss, sollte als Wohnung Gottes gedacht sein. Im Reformstil, mit romanisierenden Details errichtet, entsprach die Architektur dem Zeitgeist des Kaiserreichs.

30 Jahre später, am 25. Juli 1943, werden alle Bauten am Holstenplatz zerbombt, auch die Christuskirche erhält einen Treffer, der Dach und Großteile des Innenraums zerstört.

Christuskirche 2.0
Ich fühle noch heute mein maßloses Staunen und meine Freude, als ich, ohne vorherige architektonische Auseinandersetzung, den Kirchenraum zum ersten Mal betrat.

Das Gefühl der Leichtigkeit erfasste mich – gepaart mit einer Verwirrung, Ambivalenz. Wie konnte das sein? Hatte ich nicht eben das äußere Erscheinungsbild der Kirche ganz anders wahrgenommen?

Bossierter Sandsteinsockel gepaart mit Neoromanischen Stilelementen, ein Gebäude, das eine gewisse Schwere und Standfestigkeit vermitteln.

Und jetzt dieser Innenraum, der wie ein Raumschiff, der wie eine architektonische Offenbarung in der alten Gebäudehülle gelandet ist.

Der Architekt dieses Raumes ist Werner Kallmorgen (1902-1979). Sein Name ist untrennbar mit dem Wiederaufbau Hamburgs verbunden. Wie kaum ein anderer nahm der Baumeister Einfluss auf die
Architektur der Hamburger Nachkriegszeit. Sein architektonisches Schaffen in dieser Zeit ist geprägt von der „Spannung zwischen Alt und Neu“.

Architektur als Spiegel der Zeit – ein Blick auf die Zeitgeschichte
„Kriegsende, Deutschland ist zerstört. 1949 Gründung der Bundesrepublik. Das Land stand vor seiner größten Aufgabe, dem Wiederaufbau. Skepsis auf der einen Seite, Optimismus auf der anderen. Die Menschen waren auf der Suche nach neuen Werten. Auf politisch wirtschaftlicher Ebene entwickelten sich die parlamentarische Demokratie und die soziale Marktwirtschaft. Der Nachholbedarf der Deutschen war in jeder Hinsicht groß. Der Drang, Neues zu schaffen, ebenso. Doch da es an Vielem fehlte, war Improvisation angesagt.

Da sind einerseits die wiederbelebte klassische Moderne und der überlebte Monumentalstil aus der Zeit des Nationalsozialismus, andererseits entwickeln sich völlig eigenständige Elemente im Baustil.“ 1
„Raum im Raum“ als Grundlage für „Raumspannung“.

Werner Kallmorgen ist ausgewiesener Fachmann und gesuchter Gutachter für den Wiederaufbau oder Neubau zerstörter Theater in ganz Deutschland. Er nimmt an bundesweiten Architekturwettbewerben teil, ist Preisrichter für Theaterwettbewerbe, ist Berater für Städte und Kommunen.

In diesem Schaffenskontext entsteht seine „Raum in Raum“ Idee. Durch Bomben zerstörte Gebäude gleichen ausgehöhlten Zähnen, ohne Funktion und ohne Inhalt. Kallmorgen erhält und ertüchtigt die vorhandenen Gebäudehüllen und füllt das Innere neu. Er löst den neuen Innenraum vom Außenmauerwerk. Er baut einen Raum im Raum, er baut Neues in alte Hüllen. Damit kann er auf die neuen Anforderungen der Zeit, der Menschen, der Räume, unabhängig antworten, ohne das übriggeblieben Alte zu zerstören.

Der Auftrag für den Wiederaufbau (1956-1957) der Christuskirche stellt ihn vor neue Herausforderungen, nicht Theater, sondern ein Raum für christliche Feierstunden soll errichtet werden. Die Aufgabe ist, der Spannung von Prediger und Gemeinde eine räumliche Unterstützung zu geben.

Der theoretische Ansatz der Raumspannung wurde von Otto Bartning, Kirchenbaumeister in Hamburg, geprägt. In seinem 1919 erschienen Buch „Vom neuen Kirchenbau“ hatte er gefordert:
„dass die Architektonische Spannung des Raumes und die liturgische Spannung des Gottesdienstes übereinstimmen, auseinander hervorgehen müssen“.

„Exakt in diesem Sinne schuf Werner Kallmorgen den neuen Kirchenraum. Gerundete raumhohe Mauerwerkschalen umfassen die Gemeinde, die Empore bildet einen zur Kanzel hin geöffneten Halbkreis. Ein abgehängtes Deckensegel nimmt die Rundung der Emporenbrüstung auf und bildet mit der gerundeten Apsiswand ein sammelndes Oval über dem liturgischen Zentrum, dem Baptisterium.“

Quellen: (1) „Das Neue gegen das Alte“ Hrsg. Ernst Balach Haus Seite 30,31, Friedhelm Grundmann, Architekt, Dölling und Galitz Verlag

Kategorien: Die Christuskirche - Das Gebäude am Suttnerpark
Schlagwörter: Linienführung im Innenraum, Oval - Gestaltungsform, Ruhe und Entschleunigung
Autor: Dorothea Pieper
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